Zeit zum Nachdenken: Steffen Freund
Samstag, 11. Juli 2020
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Der Stillstand der letzten Zeit bot Gelegenheit, Rückschau zu halten und einen Ausblick auf die Rückkehr des europäischen Fußballs zu wagen. Wir haben einige ehemalige Stars gebeten, uns über die Höhen und Tiefen ihrer Karriere zu berichten. Der Nächste in der Miniserie ist der Deutsche Steffen Freund.
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Es sagt sich so leicht, dass der Traum vom Profifußballer für mich wahr geworden ist. Aber meine Karriere hat mir sehr viel mehr gegeben, als ich mir erhoffen durfte.
Ich will das etwas genauer erklären. Als Erstes träumst du davon, Profi zu werden. Hast du einmal deinen ersten Vertrag unterzeichnet, willst du unbedingt in der höchsten Liga deines Landes spielen. Sobald du für ein Team in der höchsten Liga deines Landes spielst, möchtest du auf europäischer Ebene spielen, beispielsweise im UEFA-Pokal, der heutigen Europa League, oder in der Champions League.
Hast du das geschafft, würdest du gerne auf dem höchsten Niveau für dein Land spielen. Danach willst du ins Ausland und in einer der besten Ligen der Welt spielen.
All das habe ich in meiner Karriere geschafft. Das erklärt auch, warum es sich so leicht sagen lässt, dass für mich der Traum in Erfüllung gegangen ist.
Doch eines kann ich verraten: Der Traum fiel letztlich ganz anders aus, als ich es mir je hätte vorstellen können.
Fußball hinter dem Eisernen Vorhang
Als kleiner Junge träumte ich davon, Fußballer zu werden, aber nicht so, wie es Kinder heutzutage tun. Ich wurde in Ostdeutschland geboren, bevor die Berliner Mauer fiel.
In meiner Kindheit gab es keine Möglichkeit, in der Bundesliga oder gar der englischen Premier League zu spielen. Dass ich meine Karriere nach Titelgewinnen mit Borussia Dortmund und Tottenham Hotspur in den beiden attraktivsten Ligen Europas beenden konnte, war da schon ein ganz besonderes Gefühl.
Meine erste Erinnerung an den Fußball ist die FIFA-Weltmeisterschaft 1974: Ich war damals vier Jahre alt, saß auf dem Schoß meines Vaters und sah, wie Deutschland gegen Deutschland spielte – West gegen Ost. Die DDR erzielte einen Treffer, wir gewannen 1:0 und mein Vater, ein ziemlich korpulenter Mann, hüpfte auf und ab. Am Ende zerbrach der Stuhl, auf dem wir saßen, und wir lagen alle auf dem Boden! Das zeigt, wie viel der Fußball allen bedeutet hat, wie stolz man auf sein Land ist.
Wir lebten in Brandenburg an der Havel, und auf meinem Schulweg kam ich immer an einem Fußballverein, der BSG Motor Süd Brandenburg, vorbei.
Jeden Morgen sagte ich: „Ich will unbedingt bei diesem Verein spielen.“ Das ist mir dann auch gelungen, und später schaffte ich den Sprung in den größten Verein der Stadt, der BSG Stahl Brandenburg.
Als die Mauer fiel, war dies für alle in der DDR ein besonderer Moment. Zum ersten Mal durften wir aus dem „Ostblock“ ausreisen, eine ganz neue Welt entdecken, und als junger Fußballer konnte man jetzt nicht nur davon träumen, in der Bundesliga zu spielen.
Eine neue Welt
Mit Stahl Brandenburg stiegen wir in die 2. Bundesliga auf, aber zu diesem Zeitpunkt, mit 21 Jahren, wusste ich schon, dass ich in der 1. Bundesliga würde spielen können. Ich hatte Angebote von den Ostklubs Hansa Rostock und Dynamo Dresden vorliegen, doch im letzten Moment kam Schalke 04 und bot mir einen Vertrag an. So entschied ich mich, zu einem der größten Vereine in Westdeutschland zu wechseln.
Den Osten zu verlassen, war trotz allem keine einfache Entscheidung. Im Westen war alles anders, und man musste sich schnell an ein neues System anpassen. Auf meine neuen Teamkameraden muss ich gewirkt haben wie ein Außerirdischer – wir hatten zu jenem Zeitpunkt einfach nicht die gleichen Lebenserfahrungen gemacht.
Bei den Steuern wusste ich nicht, was der Unterschied zwischen „netto“ und „brutto“ war. Nicht lachen, das war so.
Plötzlich musste ich 50 % Steuern auf meinem Lohn bezahlen. In der DDR zahlte man keine Steuern. Es war ein völlig anderes System. Es gab so viele Dinge zu lernen, so viele Dinge, um als Person zu wachsen. Und gleichzeitig versuchte man, allen zu zeigen, dass man einen Stammplatz verdient.
Doch dann ging alles viel schneller, als ich erwartet hatte.
In meinem ersten Spiel gegen den Hamburger SV saß ich auf der Bank, wurde für die letzten 20 oder 30 Minuten eingewechselt und spielte vor 60 000 Zuschauern. Ich war wie gelähmt, unglaublich nervös, und ich konnte kaum einen geraden Pass spielen.
In meinem zweiten Spiel gegen Eintracht Frankfurt stand ich in der Startelf; wir verloren mit 0:5. Meine Gegenspieler im Mittelfeld waren Andreas Möller und Uwe Bein – ich bekam den Ball nicht mal zu sehen.
In meinem dritten Spiel spielten wir gegen den 1. FC Nürnberg. Ich erzielte das Tor zum 1:0-Sieg – von da an war ich Stammspieler.
Erfolge und Pokale
Auf Schalke entwickelte ich mich weiter und die Leute fingen an, darüber zu reden, dass ich möglicherweise in der Nationalelf spielen könnte. Aber damals war unsere Mannschaft nicht stark genug, um in europäischen Wettbewerben zu spielen, und Bundestrainer Berti Vogts wollte, dass man diese Erfahrung mitbrachte, bevor man in die Nationalmannschaft berufen wurde.
Damals wie heute waren der FC Bayern München und Borussia Dortmund die beiden größten Vereine in Deutschland. Schalke und Dortmund waren Erzrivalen, aber mir war nicht klar, dass ein Wechsel zwischen den beiden Klubs eine schwierige Sache sein könnte. Schalke brauchte das Geld, und als der BVB im Jahr 1993 Interesse an meiner Verpflichtung bekundete, durfte ich den Verein verlassen.
Ich fühlte mich sehr geschmeichelt, dass ein Verein wie Dortmund, der in jenem Jahr im UEFA-Pokal-Finale stand, mich überhaupt in Betracht zog. Ich war mir sicher, dass ich Titel gewinnen und letztendlich Nationalspieler werden würde.
Und siehe da: 1995, einige Monate, bevor wir Deutscher Meister wurden, erhielt ich meine erste Einladung zur Nationalmannschaft; es war für ein Freundschaftsspiel gegen Spanien in Jerez.
In den nächsten Jahren erlebte ich die größten Momente meiner Karriere, gewann Titel und gehörte – mit dem BVB und der DFB-Elf – zwei unglaublichen Mannschaften an.
Der Europameistertitel 1996 überragte alles. Die meisten Spieler auf der Welt können nur davon träumen, an so einem Turniere teilzunehmen, und ich habe es gewonnen.
Doch selbst im Erfolg gibt es Höhen und Tiefen.
Im EM-Halbfinale gegen England erlitt ich eine schwere Kreuzbandverletzung und verpasste das Finale in Wembley. Ein Jahr später, als wir mit dem BVB die Champions League gewannen, fehlte ich im Endspiel gegen Juventus ebenfalls verletzungsbedingt.
Solche Höhen und Tiefen gehören einfach zu einer guten Karriere. Sie helfen einem, mit beiden Füßen auf dem Boden zu bleiben. Während meiner Karriere hatte ich immer wieder Verletzungspech, besonders in jener Zeit. Zweimal verletzte ich mich an den Kreuzbändern, zweimal am Meniskus, ich hatte Knorpelprobleme und musste mich vier Operationen am linken Knie unterziehen; 1997 stand ich kurz davor, aufzuhören.
Um den Anschluss wieder zu schaffen, musste ich hart arbeiten. Ich kämpfte, hängte mich voll rein, und als ich 1997 im Finale des Weltpokals, der heutigen FIFA-Klub-Weltmeisterschaft, spielte, wusste ich: Das hat sich alles gelohnt.
In Deutschland gibt es insgesamt vielleicht 100 Spieler, die die Klub-Weltmeisterschaft gewonnen haben.
Wenn ich darüber nachdenke: Ich habe nationale Titel gewonnen, war Europameister, Champions-League-Sieger und Klub-Weltmeister – nicht schlecht für einen Ossi!
Doch es wartet immer wieder eine neue Herausforderung auf einen.
Auf zu neuen Ufern
1999 wechselte ich in die englische Premier League zu Tottenham Hotspur. Dort musste ich, einmal mehr, eine ganz neue Welt entdecken.
In der Schule hatte ich Russisch gelernt; ich sprach kein Wort Englisch. Ich kann mich noch erinnern, dass ich im Training anfangs nur Bahnhof verstand! Telefonanrufe bei mir zu Hause habe ich gar nicht erst beantwortet.
Aber ich wusste, dass der englische Fußball zu meinem Spiel passte, dass ich ein kampfbetonter Spielertyp war – und so kam es dann auch.
Ich konnte es kaum erwarten, an der White Hart Lane aufzulaufen, im FA Cup und im Ligapokal zu spielen. Bei meinem Wechsel fehlten uns noch zwei Spiele bis Wembley, und schließlich gewannen wir das Ligapokal-Finale in diesem fantastischen Stadion. So durfte ich drei Jahre nach dem verletzungsbedingt verpassten Endspiel dieses Mal zur Royal Box, der Ehrentribüne, hinaufsteigen und den Siegerpokal in die Höhe stemmen.
Aber die Fans waren in jedem Spiel aus dem Häuschen, nicht nur im Pokalfinale, nicht nur bei einem Traumtor von David Ginola, sondern auch bei einem Zweikampf von Steffen Freund, wenn er seinen Gegner vom Ball trennte und dieser zu Boden ging.
Genau wie in Deutschland sind auch in England die meisten Menschen fußballverrückt. Alle Vereine, für die ich spielte, hatten fantastische und unglaublich leidenschaftliche Fans. Wenn ich bei den Spurs mal nicht spielen konnte, liebte ich es, mir das Spiel von der Tribüne aus zusammen mit den Fans anzuschauen.
Diese Atmosphäre ist einer der Gründe dafür, dass man als Fußballer das liebt, was man tut. Die Geisterspiele der letzten Zeit, ohne Fans, sind irgendwie seltsam.
Man will die Fans glücklich machen, seinen Beruf genießen, und ich glaube, dass das allen Spielern so geht.
Karriereende und Bilanz
Im Alter von 34 Jahren beendete ich meine Karriere und ich muss sagen, dass ich es keinen Moment lang bereut habe.
Hinter mir lagen 8 Operationen, 50 Muskelverletzungen und über 500 Spiele. Deshalb beschloss ich, dass es reichte.
Selbst jetzt, mit einem geschwollenen Knie und gelegentlichen Rückenschmerzen, würde ich nichts an meiner Karriere ändern.
Ich gehörte nicht unbedingt zu den talentiertesten Spielern, aber ich war jemand, der alles tat, um die nächste Stufe, das nächste Level zu erreichen. Ich gab in jedem Spiel alles. Ich hoffe, dass mich die Fans genau dafür in Erinnerung behalten werden.
Mit sechs Jahren habe ich mit dem Fußballspiel im Verein angefangen, dem Sport bin ich bis heute in den verschiedensten Funktionen verbunden geblieben: als Co-Kommentator für die DFL, als UEFA-Botschafter und als Experte für die Mediengruppe RTL.
Fußball ist weit mehr, als nur ein Spieler zu sein. Es geht um sehr viel mehr, und deshalb kann ich mir ein Leben ohne Fußball nicht vorstellen.
Steffen Freund spielte 21 Mal für die deutsche Nationalmannschaft und war auch bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona mit dabei.
Mit Borussia Dortmund gewann er zweimal die deutsche Meisterschaft sowie 1997 die UEFA Champions League. 1999 gewann er mit Tottenham Hotspur den englischen Ligapokal. Er ist Botschafter der UEFA EURO 2020.