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The Technician: Schnellere Entscheidungen für ein schnelleres Spiel

Technisch Trainerausbilder Die UEFA

Neurowissenschaftliche Einflüsse auf die Ausbildung von Fußballprofis in Europa

Zweikampf zwischen Nathan Aké von Manchester City und  Elias Jelert vom FC Kopenhagen.
Zweikampf zwischen Nathan Aké von Manchester City und Elias Jelert vom FC Kopenhagen. Ritzau Scanpix/AFP via Getty Ima

Für Jes Buster Madsen, Leiter der Abteilung für Forschung und Entwicklung beim FC Kopenhagen, „spielt sich beim Fußball ein Großteil im Gehirn ab“. Diese Sichtweise beansprucht der Däne zwar nicht exklusiv für sich, doch seiner Überzeugung nach stellt sie einen wichtigen Ausgangspunkt dar, um über die Rolle der Neurowissenschaft im Coaching und in der Spielerausbildung zu sprechen. „Fußball spielt sich im Gehirn ab und das Gehirn funktioniert nun mal von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Dabei spielt das Training eine Rolle, aber auch die genetische Veranlagung. Daher gibt es Unterschiede, wie Menschen Informationen verarbeiten und die Welt wahrnehmen“, erklärt Madsen, der im August 2021 zum FC Kopenhagen kam. „Das bedeutet aber auch, dass man die Wahrnehmung der Welt in Bezug auf Tempo, Genauigkeit, Ausführung und Entscheidungshandeln optimieren kann.“

Madsen schlug eine akademische Laufbahn ein, bevor er in den Fußball wechselte. Für ihn gehen die kognitiven Fähigkeiten, die von Spitzenfußballer/-innen verlangt werden, auf verschiedene kognitive Kategorien zurück. „Am Anfang steht natürlich die Aufmerksamkeit. Damit meine ich aber weder Fokus noch Konzentration, sondern vielmehr die Fähigkeit, auf Reize und Impulse zu achten und die eigenen Prioritäten genau zu kennen.“ Auch die Fähigkeit zur Vororientierung, das Arbeitsgedächtnis, die Mustererkennung, die visuelle Analyse, die Antizipation, die kognitive Flexibilität, die Entscheidungsfähigkeit und die Inhibition motorischer Handlungen zählt der Däne zu den Schlüsselfaktoren für Profis der Elitestufe. Für ihn ist „deren Zusammenwirken äußerst komplex und extrem faszinierend.“ 

Zu Madsens Hauptaufgaben gehört die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten bei jungen Talenten im Alter von 14-19 Jahren in der Nachwuchsakademie des FC Kopenhagen. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass er einige Aspekte seiner Arbeit für ältere Spieler geeigneter hält als für jüngere. „Mit zunehmendem Alter entwickeln die Spieler spezifischere Wege, wie sie die Welt analysieren und wahrnehmen. Daher können wir bei älteren Jahrgängen manchmal leichter ermitteln, woran wir arbeiten sollten. U14-Akteure arbeiten hingegen auch an ihrer Ballbehandlung sowie an technischen und taktischen Aspekten des Spiels. Dadurch könnten sie mitunter Probleme haben, sich voll und ganz auf das Scanning oder die Inhibitionsfähigkeit zu fokussieren. Demgegenüber wissen Spieler der A-Mannschaft oder U19-Akteure, die in der Champions League zum Einsatz kommen, dass sie an Details feilen. Daher ist die Arbeit hier tatsächlich sinnvoller.“

Ob beim Nachwuchs oder der ersten Mannschaft: Der aktuelle dänische Meister hat seinen neurowissenschaftlichen Ansatz aus dem Fußball heraus entwickelt. „Wir möchten, dass die Spieler möglichst schnelle Vorentscheidungen treffen“, so Madsen weiter. „Je mehr Informationen zum Spiel sie verarbeiten können, bevor sie eine Entscheidung treffen müssen, desto schneller können sie auf dem Platz agieren. Und wir wollen, dass die Spieler schnell agieren. Wenn du deine Umgebung auf dem Platz erst dann analysierst, wenn du den Ball zugespielt bekommst, verlierst du wertvolle Sekunden.“

Jes Buster Madsen (Mitte) bei der Arbeit mit Nachwuchsspielern des FC Kopenhagen.
Jes Buster Madsen (Mitte) bei der Arbeit mit Nachwuchsspielern des FC Kopenhagen.

Positionsspezifische Kognition

Beim FC Kopenhagen ist ein Hauptaugenmerk auf die Zeit gerichtet, die ein Spieler für die Analyse seiner Umgebung benötigt. Daneben sind je nach Position weitere wichtige Überlegungen erforderlich. Madsen ergänzt: „Es geht nicht nur um die schnellste und beste Aufnahme, Verarbeitung und Weiterleitung von Informationen. Es geht vor allem auch darum, die Kognition auf diejenigen Dinge auszurichten, die von einem spezifischen Spielertyp verlangt werden. Beispielsweise muss ein Flügelstürmer andere Aspekte in seiner Analyse berücksichtigen als ein zentraler Mittelfeldspieler. Bei der Analyse kognitiver Aspekte kommt es daher immer auch auf die Einzelperson an.“

Der FC Kopenhagen nutzt zur Analyse einzelner Spieler verschiedene kognitive Messungen. „Wir geben uns nicht mit klassischen kognitiven Tests zufrieden, bei denen man vor einem Bildschirm irgendwelche Knöpfe drückt“, verdeutlicht der Neurowissenschaftler. „Vielmehr haben wir zusammen mit einem norwegischen Software-Unternehmen unser eigenes System entwickelt. Dabei haben wir ein Testverfahren konzipiert, mit dem wir die Fähigkeiten der Spieler zur Vororientierung und ihre Erinnerungsfähigkeit an Objekte in ihrem Umfeld erfassen können.“ Die Ergebnisse dieser Tests werden mit Daten verschiedener Reaktionstests sowie klassischer kognitiver Tests kombiniert, die nach Ansicht des Klubs von Bedeutung sind. Anschließend wird für alle Spieler ein Bericht mit relevanten Daten und Trainerbeobachtungen erstellt.

Madsen betont mit Nachdruck, dass die wesentliche Arbeit des Klubs auf dem Trainingsplatz und nicht etwa vor dem Bildschirm stattfindet. „Im Endeffekt wenden wir gar nicht so viel Zeit für das kognitive Training auf, das für einige eine Art heiliger Gral geworden ist. Wir stehen der Idee äußerst kritisch gegenüber, die Spieler mit einer Software oder einem VR-System zu konfrontieren, sie zwei Stunden pro Woche damit zu trainieren und dann dem Irrglauben zu unterliegen, dadurch würden sie zu besseren Fußballern. Stattdessen wollen wir die Spieler zunächst testen und beurteilen sowie die daraus gewonnenen Erkenntnisse in unsere Arbeit auf dem Platz einfließen lassen. Erst dann entwickeln wir Ideen und eine Methodik, wie wir das Ganze umsetzen und die Spieler verbessern.“

Effektive Kommunikation im Fußballumfeld

Für Jes Buster Madsen ging der Wechsel aus der Wissenschaft in den Fußball mit einem Lernprozess einher. Zunächst musste er ein Verständnis dafür entwickeln, wie ein Fußballklub arbeitet und welche Kommunikationstechniken am effektivsten sind. „Ich habe viel Zeit mit den Coaches verbracht, um das Training besser zu verstehen. Ich wollte wissen, wie planen sie ihre Einheit, welche Ansprache wählen sie, was wollen sie erreichen? Diese Dinge sind wichtig. So habe ich mir das Fußballumfeld langsam, aber sicher erschlossen.“

Mit seinem Wechsel in den Fußball hat Madsen auch seine Art zu kommunizieren weiterentwickelt und gelernt, wie viele Informationen er bereitstellen kann. „Ich musste lernen, wie ich mein Fachwissen am besten kommuniziere. Ich kann mich noch gut an meine erste Präsentation erinnern. Da hatte ich für jeden Spieler rund 20 Datenpunkte vorbereitet. Am Ende der Besprechung wusste keiner, was er mit den ganzen Informationen anfangen soll. Es waren schlicht und ergreifend zu viele. Heute erfasse ich zwar weiterhin die 20 Datenpunkte, damit wir sie näher analysieren können, wenn wir uns für einen bestimmten Spieler interessieren, aber die allgemeine Einschätzung ist deutlich einfacher gehalten. Wir geben den Spielern direkte Empfehlungen mit auf den Weg, z.B. ob sie mehr an ihrer Reaktions- oder an ihrer Scanning-Fähigkeit arbeiten sollen. Wenn der Trainer möchte, dass wir uns näher damit beschäftigen, betrachten wir die Details und schauen uns alle Zahlen und Daten an. Vielleicht erstellen wir auch einige Videoanalysen.“

Ratschläge für andere Vereine

Beim FC Kopenhagen ist Madsen mittlerweile Teil eines zweiköpfigen Teams, das sich mit neurowissenschaftlichen Aspekten beschäftigt. Er ist überzeugt, dass andere Vereine in diesem Bereich ebenfalls eine Menge bewirken können, ohne übermäßig viele Ressourcen aufzuwenden. „Wir haben nicht damit begonnen, gleich eine fertige Lösung einzukaufen, weil wir einfach unsicher waren. Diese Entscheidung war letztlich goldrichtig, da wir dadurch sehr gründlich über alle relevanten Dinge nachgedacht haben.“ Anderen Klubs rät er, ein eigenes Kognitionsprogramm für die Arbeit mit den Spielern auf dem Platz zu entwickeln. „Das Modell könnte im Grunde so aussehen: Vororientierung, Analyse, Entscheidung, Handlung. Das würde schon genügen. Im nächsten Schritt könnte man Spieler anhand dieses Modells betrachten und analysieren. Das ist besser, als teure Tools einzukaufen, mit denen man zwar unzählige Daten gewinnen kann, von denen man aber wiederum nicht weiß, was sie im Detail bedeuten.“

Nach Auskunft des Dänen bleibt die Interpretation der Daten selbst für Fachleute wie ihn eine Herausforderung: „Ich habe den Eindruck, dass man noch immer dazu neigt, den Fokus etwas zu sehr auf diskrete Objekte und Werte zu richten, die vom eigentlichen Spiel isoliert sind. Doch das sind sie nicht: Es geht um Wahrnehmung – und die Wahrnehmung findet eben auf dem Platz statt. Also geht es im Grunde darum, passende Begriffe zu finden und diese im Training in das Coaching zu integrieren. Dafür braucht es keine teuren Tools.“

Die Einbindung der Kognitionswissenschaft in die Arbeit der Vereine mit den Spielern hat nach Ansicht von Jes Buster Madsen großes Zukunftspotenzial. „Es ist von zentraler Bedeutung, die Kognitionswissenschaft in die Arbeit mit den Spielern zu integrieren, und nicht etwa heranzuziehen, um Spieler zu bewerten und auszusortieren. Man muss die einzelnen kognitiven Profile richtig interpretieren und immer im Zusammenhang mit dem jeweiligen Spieler sowie der Mannschaft, in der er spielt, betrachten. Daraus können sich extrem aufschlussreiche, interessante und lebhafte Gespräche mit den Akteuren über die optimalen Strategien im Hinblick auf die Wahrnehmung und Analyse des Spiels ergeben. Das ist das Wichtigste. Wenn man den Spielern dabei helfen kann, schneller zu spielen und bessere Entscheidungen zu treffen, hat die kognitive Neurowissenschaft einen wichtigen Beitrag geleistet. Wird daraus jedoch nur ein weiterer Datenpunkt, den wir erfassen, ohne tiefgründig darüber nachzudenken, wird die ganze Sache keinen Erfolg haben.“

PSV Eindhoven: kognitive Tests von der U13 bis zu den Profis

Beim PSV Eindhoven sind kognitive Tests bereits seit 2016 ein wichtiger Bestandteil in der Nachwuchsakademie und bei den Profis. Zweimal pro Jahr durchlaufen alle Spieler von der U13 bis zur A-Mannschaft eine Reihe von neurokognitiven Tests. Seit Projektbeginn vor acht Jahren erfasst der niederländische Klub die Testergebnisse und kann so auf einen reichhaltigen Datenschatz blicken. „Wir haben die Ergebnisse von etwa 2 000 Tests mit mehr als 600 Spielern gespeichert“,erklärt Jurrit Sanders, leitender Sportwissenschaftler an der PSV-Akademie. „Dadurch haben wir unsere eigene Datenbank und unsere eigenen Normen erstellt. Diese Informationen besprechen wir mit unseren Coaches. Sie bilden die Grundlage für zahlreiche Entscheidungen.“

Der niederländische Traditionsverein greift auf einen Onlinetest zurück, der aus vier spielähnlichen Aufgaben besteht und etwa 45 Minuten dauert. „Das erste Spiel dreht sich um das Arbeitsgedächtnis“, so Sanders weiter. „Beim zweiten Spiel geht es um die Antizipationsfähigkeit. Im dritten Spiel werden Kontrolle und Reaktionsschnelligkeit in stärker automatisierten Situationen getestet, und im vierten Spiel geht es um die Aufmerksamkeit und Reaktionsschnelligkeit bei komplexeren Denkaufgaben.“

Sanders betont, dass die Verantwortlichen im Klub sich viele – auch kritische – Gedanken darüber machen, wie sich die Testergebnisse aufs Spielfeld übertragen lassen. „Aufgrund unserer Erfahrungen der letzten acht Jahre und zahlreicher Gespräche mit Trainern, aber auch mit internen und externen Fachleuten aus dem Bereich Neurowissenschaft, sind wir überzeugt, dass diese Herangehensweise einen echten Mehrwert für unsere Arbeit bietet.“ Dafür spricht laut Sanders auch die Art und Weise, wie die kognitiven Aspekte des Fußballs in die Trainingsansätze des Klubs integriert werden: „Kognition hat sich Schritt für Schritt zu etwas ganz Normalem innerhalb der Akademie entwickelt. Alle reden über das Thema und jedem ist es bewusst. Neben technischen, taktischen und physischen Fähigkeiten sind die kognitiven Aspekte ein wirklich wichtiger Teil unseres Modells. Am wichtigsten ist jedoch, dass dieses Thema auch von den Coaches und ihrer Herangehensweise an den Fußball angemessen berücksichtigt wird.“

Die Erkenntnisse aus den neurokognitiven Tests helfen den Trainerteams dabei, noch effektiver mit einzelnen Spielern zusammenzuarbeiten. „Wir sind überzeugt, dass dies den Trainerteams hilft, bestimmte Verhaltensweisen auf dem Platz besser zu verstehen“, fährt Sportwissenschaftler Sanders fort. „Wir geben den Coaches Tipps, wie sie mit einzelnen Spielern auf und abseits des Platzes umgehen können. Diese Gespräche sind sehr hilfreich, da wir danach anders mit den Spielern arbeiten.“

Johan Bakayoko vom PSV Eindhoven im Training.
Johan Bakayoko vom PSV Eindhoven im Training.AFP via Getty Images

Einfluss auf Aktivitäten auf und neben dem Platz

Bei den Trainingseinheiten in der Akademie des PSV Eindhoven stehen verschiedene Gesichtspunkte des vereinseigenen fußballspezifischen Kognitionsmodells im Mittelpunkt, wie Sanders hervorhebt: „Wir betrachten es als einen dreistufigen Prozess. Im ersten Schritt geht es darum, die Umgebung wahrzunehmen. Das geschieht zu 95-98 % visuell, könnte aber auch durch akustische Signale von Teamkollegen und Trainern oder durch taktile Reize geschehen. In den meisten Fällen sind es aber visuelle Informationen. Anschließend müssen die erfassten Informationen in eine Entscheidung umgewandelt werden. Dabei stellt das Gehirn unzählige Vergleiche an. Beispielsweise vergleichen Spieler die jeweilige Spielsituation auf dem Platz mit Erfahrungen, die in ihrem Gedächtnis abgespeichert sind, d.h. mit Dingen, die sie in der Vergangenheit beobachtet haben, oder mit Anweisungen ihrer Trainer oder mit taktischen Vorgaben“, so der Sportwissenschaftler weiter.

„All diese Vergleiche führen dann zu einer Entscheidung, die wiederum in eine fußballerische Aktion auf dem Spielfeld münden muss. Das heißt also, das Gehirn muss eine Botschaft an die Muskeln senden. Das Ganze ist ein kontinuierlicher Prozess. Sobald die Aktion ausgeführt wird, kommen bereits neue Informationen an, sodass der Spieler die Handlung womöglich unterbrechen und eine neue Aktion starten muss. Hierbei spielt vor allem Inhibition eine wichtige Rolle.“

Individuelle Arbeit zur Unterstützung der Spieler

Bei der Weiterentwicklung der kognitiven Fähigkeiten seiner Spieler konzentriert sich der PSV Eindhoven bei einem Teil seiner Arbeit auch auf Einzel- und Kleingruppenübungen. „Wir binden kognitive Aspekte in die Teamübungen mit ein, setzen aber auch auf isoliertere Settings“, erklärt Sanders. „Dabei arbeiten wir mit einem, zwei oder drei Spielern zusammen und überladen sie mit Reizen und Informationen. Dadurch wollen wir ihre Vororientierung bzw. die Ausführung ihrer technischen Fähigkeiten in Drucksituationen verbessern. Die Auswahl dieser Spieler erfolgt auf Basis der Testergebnisse in Kombination mit Beobachtungen des Trainerteams bezüglich der Leistung auf dem Platz sowie der Selbsteinschätzung der Akteure.“

Sheffield United: Körperregulation als Schlüssel zur effektiveren Umsetzung kognitiver Fähigkeiten

Damit Spieler ihre kognitiven Fähigkeiten, zum Beispiel die Vororientierung, effektiv anwenden können, müssen sie in einer optimalen körperlichen Verfassung sein. Davon ist Sally Needham überzeugt, die in der Akademie von Sheffield United die Bereiche menschliche Entwicklung und Leistungskultur verantwortet. „Um kognitive Fähigkeiten zu nutzen, müssen die Spieler in einer guten körperlichen Verfassung sein“, so die Expertin, die im Dezember 2020 zum Premier-League-Aufsteiger kam, nachdem sie zuvor über zehn Jahre lang für den Englischen Fußballverband (FA) und die Doncaster Belles tätig war. „Anderenfalls verlieren die Akteure ihren visuellen Fokus, was sich auf ihre Herzfrequenz und ihre Bewegungen auswirkt. Das bedeutet, das Denken und Fühlen ihrer Fähigkeiten wird eingeschränkt. Wenn sich Spieler in optimaler physischer Verfassung befinden, d.h. reguliert sind, können sie das Spiel hingegen besser lesen, bevor sie den Ball erhalten, und sich entsprechend besser positionieren. Weiterhin sind sie zu Gesten wie einem Lächeln oder einem nach oben gestreckten Daumen in der Lage, können Dinge anzeigen oder auch reden. Sie sehen das große Ganze, sie können planen und antizipieren, und vor allem können sie sich orientieren und agieren. Sind sie hingegen dysreguliert, wird all das zu einer großen Herausforderung.“

Um sicherzustellen, dass dieser dysregulierte Zustand nicht während des Spiels eintritt, spricht Needham von der „roten oder grünen Zone“. Damit lässt sich zwar nicht die Funktionsweise des Gehirns erklären, aber dieses vereinfachte Modell hilft jungen Spieler/-innen, ihre Erfahrungen und Erlebnisse besser zu verstehen, wie die Expertin veranschaulicht: „Wir reden viel über die rote und grüne Zone. Wenn sich Spieler in der roten Zone befinden, beschreiben sie diesen Zustand so, als ob sie im Spiel ‚umherschweifen, nichts wahrnehmen oder tagträumen‘. Unterläuft ihnen dann ein Fehler, kann sich ihr Blick weiter verengen und sie treffen noch mehr schlechte Entscheidungen. Dann befinden sie sich tief in der roten Zone oder im so genannten Flugmodus.“

Ein solcher dysregulierter Zustand kann nach Ansicht von Needham negative Auswirkungen auf die physische Leistung von Spieler/-innen haben: „Im Hinblick auf die physiologische Reaktion wissen wir Folgendes: Wenn sich einige unserer Spieler vor ihrem Einsatz in einer Stresssituation befinden, dann empfinden sie das Spiel nach 10-15 Minuten als physisch anstrengend. Das liegt daran, dass sich ihre Herzfrequenz verlangsamt und sie in eine Art Ruhezustand übergehen, oder dass ihr Puls steigt und sie so für den Kampf- oder Flugmodus mobilisiert. Der Körper will uns mit seiner Reaktion nur schützen.“

Spieler müssen in optimaler körperlicher Verfassung sein, um mit den Anforderungen des Elitefußballs zurechtzukommen.
Spieler müssen in optimaler körperlicher Verfassung sein, um mit den Anforderungen des Elitefußballs zurechtzukommen.Getty Images

Methoden, um mit den Herausforderungen des Spitzenfußballs Schritt zu halten

Needham beschreibt ihre Arbeit bei Sheffield United damit, den Spielern „mehr Boden“ zu geben, damit sie mit den Herausforderungen im Spitzenfußball Schritt halten können. „Wir schauen uns an, wie wir den körperlichen Zustand eines Spielers unterstützen und verbessern können“, so die Expertin. „Ich nenne das den ‚Boden‘. Je mehr Boden den Spielern in ihrem System zu Füßen liegt, desto länger können sie einen Zustand optimaler Regulation aufrechterhalten. Je größer das Toleranzfenster – oder der Boden – eines Spielers ist, desto mehr Zeit mit dem Ball hat er, da er die Situation klarer erfassen und verarbeiten kann. In einem dysregulierten Zustand ist diese Fähigkeit hingegen stark eingeschränkt.“

Bei Sheffield United hat Needham Yoga, Atemübungen, Journaling sowie Unterricht zu Körper und Geist eingesetzt, um die Toleranzlevel bei Nachwuchstalenten zu steigern. „In der Phase der Elitejuniorenförderung, d.h. im Alter von 17-21 Jahren, erklären wir ihnen zunächst, wie Körper und Geist funktionieren. Anschließend geben wir ihnen Werkzeuge an die Hand, um dieses Wissen in der Praxis anzuwenden. Im Rahmen ihrer fußballerischen Ausbildung stehen für alle Spieler Yoga, Atemübungen und Journaling auf dem Programm. Einige Akteure erhalten spezifische Tools entsprechend ihren Bedürfnissen.“

Needham erklärt, dass die physische und psychische Entwicklung junger Fußballer/-innen erst mit Mitte zwanzig abgeschlossen ist. Daher ist es ihrer Auffassung nach wichtig, Talente in dieser Altersgruppe besonders zu unterstützen: „Bei uns im Klub herrschte Konsens darüber, dass die Spieler eine gute Selbstkenntnis entwickeln müssen. Die Entwicklung von Körper und Geist ist erst mit Mitte zwanzig abgeschlossen. Daher wollten wir ihnen möglichst frühzeitig in ihrer Ausbildung so viel Wissen wie möglich über sich und ihren Körper vermitteln und ihnen einige wirklich hilfreiche Praktiken mit auf den Weg geben. Das ist unserer Meinung nach besser, als später den Schwerpunkt verstärkt auf Selbstreflexion zu richten.“

Der Lernprozess wird durch einen Fokus auf Schlaf, Achtsamkeit und Selbstgespräche unterstützt. „Wir verfügen über einen Achtsamkeitsraum und die Spieler haben die Möglichkeit, mit Farben kreativ zu werden“, erklärt Needham. „In der Ausbildungsarbeit stehen Yoga und Atemübungen auf den Programm. Außerdem arbeiten wir viel mit Sprache. So lernen die Spieler, dass sie bestimmte Begriffe in der roten Zone halten und dass sie sich durch konstruktive Selbstgespräche zurück in die grüne Zone holen können. Wenn ein Mittelstürmer beispielsweise eine Großchance liegen lässt und sich darüber ärgert, kann er in diesem emotionalen Zustand hängen bleiben. Vergibt er dann eine weitere Chance, wirkt dies erneut negativ auf ihn ein, sodass sich sein Gefühl nur verstärkt. So etwas kommt vor und ist völlig normal. Die viel wichtigere Frage ist, wie schnell der Stürmer den Resetknopf findet. Darum haben wir eine Strategie, um den Spieler wieder in die grüne Zone zurückzuholen.“

Begrüßungsaktivitäten, Strukturtafeln, persönlicher Empfang und ihre Bedeutung

Coaches aller Leistungsstufen können Needham zufolge ihren Spielern – und auch sich selbst – durch bestimmte Maßnahmen dabei helfen, eine optimale Regulation aufrechtzuerhalten. Dazu eignen sich beispielsweise Begrüßungsaktivitäten, Strukturtafeln oder auch der persönliche Empfang. All diese Dinge haben sich als nützliche Strategien erwiesen. „Für Coaches im Breitenfußball ist es manchmal schwierig. Vielleicht kommen sie direkt von der Arbeit zum Trainingsplatz und müssen sich vor Ort um viele Dinge kümmern. Daher ist es wirklich wichtig, dass auch sie sich vor der Arbeit mit den Spielern ausreichend Zeit für die Selbstregulation nehmen. Auch die Selbstwahrnehmung von Trainern spielt eine große Rolle; sie müssen sich ihrer eigenen Selbstregulation und Körpersprache bewusst sein. Denn dysregulierte Erwachsene können dysregulierte Kinder nicht unterstützen, einen regulierten Zustand zu erreichen. Daher müssen Erwachsene ihre eigenen Bedürfnisse regulieren.“

Der persönliche Empfang jedes einzelnen Spielers bei der Ankunft und die direkte Überleitung zu einer Begrüßungsaktivität sind ebenfalls ein wichtiger Bestandteil der Abläufe vor dem Training. „Wir wissen, dass unsere Bedrohungserkennung auf Augen und Mund fokussiert ist und wir kennen die Bedeutung von Tonfall und Körpersprache. Mit einem freundlichen, persönlichen Empfang erhält jeder einzelne Spieler die Möglichkeit, in Ruhe anzukommen. Folgt direkt danach eine Begrüßungsaktivität, gilt das Gleiche auch für den Trainer.“

Mithilfe einer Strukturtafel kann der geplante Ablauf der Einheit dargestellt werden. Das kann laut Needham dazu beitragen, dass Kinder ihre Angst besser steuern können. „Kinder kommen oft zum Training und fragen, was in der Einheit auf dem Plan steht oder ob am Wochenende ein Spiel stattfindet. Das sind Merkmale von Angst. Ein klarer Ablaufplan für die Einheit mit Zeitangaben kann dazu beitragen, den Spielern die Angst zu nehmen.“ Nach Ansicht der Expertin haben sich Atemübungen als ideales Mittel erwiesen, um dem dysregulierten Zustand bei Kindern entgegenzuwirken: „Die Atmung ist gewissermaßen die Fernbedienung für unseren Körper. Ein dysreguliertes Kind sollte am besten einige tiefe Atemzüge machen. Wenn der Trainer in diese Atemübung mit einsteigt, macht sich ein Gefühl von Sicherheit breit, das die Regulierung des Nervensystems fördert.“

Mit der Schaffung eines sicheren Umfelds für die Spieler bei Training und Wettkampf kann auch das Level der Herausforderung intensiviert werden. „Wir müssen für ein möglichst sicheres Umfeld sorgen, damit wir die Spieler auf dem Rasen pushen und ihre Widerstandsfähigkeit dadurch stärken können“, erläutert Needham. „Es geht nicht darum, ein behagliches Umfeld zu schaffen, in dem keine Herausforderungen warten. Es geht um die Sicherheit, auch Herausforderungen stellen zu können. Wenn die Spieler aber in keiner optimalen körperlichen Verfassung sind und man dann Druck auf sie ausübt, dysregulieren sie einfach.“