"Auf jeden Fall geht es weiter nach vorne" - Silvia Neid
Sonntag, 2. April 2017
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Silvia Neid ist eine Insiderin und absolute Expertin des Frauenfußballs. Im Vorfeld der UEFA Women's EURO 2017 hat sich die ehemalige Bundestrainerin mit UEFA Direct unterhalten.
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Anfang Januar wurde Silvia Neid zum dritten Mal in ihrer Karriere zur FIFA-Welttrainerin des Jahres ernannt und krönte damit ihre beispiellos erfolgreiche Laufbahn. Nach dem Triumph bei den Olympischen Spielen in Brasilien beendete sie ihre Amtszeit als Bundestrainerin, blieb dem DFB aber in neuer Funktion erhalten. The Technician hat sich mit Neid über ihre neue Rolle und die Zukunft des Frauenfußballs unterhalten.
Silvia Neid, herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung als FIFA-Welttrainerin des Jahres. Wie haben Sie den Abend erlebt?
Zunächst war es eine sehr schöne Sache, überhaupt zu den letzten drei Kandidatinnen zu gehören. Es ist immer ein sehr schöner Abend, man trifft wirklich außergewöhnliche Persönlichkeiten. Dass ich diese Wahl zum dritten Mal gewonnen habe, war eine sehr schöne Auszeichnung. Für mich war es das i-Tüpfelchen auf dem i-Tüpfelchen. Schöner kann man seine Karriere bei der Frauen-Nationalmannschaft nicht beenden. Wohl wissend, dass ich das nicht alleine geschafft habe. Um Erfolge zu haben, braucht man seine Mannschaft und auch das Team hinter dem Team. Das möchte ich unbedingt noch einmal betonen.
Sie leiten beim DFB jetzt die Scouting-Abteilung für Frauen und Mädchen. Können Sie uns erklären, wie Ihr Alltag aussieht und welche Prioritäten Sie sich in dieser Rolle setzen?
Wir wollen die anderen Nationen im Blick haben. Wichtig ist das Trend-Scouting, bei dem wir die Entwicklungen im Frauenfußball beobachten. Dafür bin ich verantwortlich. Wir versuchen, ein paar Jahre voraus zu sein. Dementsprechend müssen die Spielerinnen ausgebildet werden, und meine Erkenntnisse teile ich der neuen Bundestrainerin Steffi Jones mit. Sie entscheidet, was damit passiert.
In welchem Verhältnis geht es für Sie als Leiterin der Scouting-Abteilung darum, auf der einen Seite Spiele anzuschauen, und auf der anderen Seite Gespräche im Hintergrund zu führen?
Nach 20 Jahren im Trainergeschäft in verschiedenen Funktionen habe ich einiges an Erfahrung. Wer sich im Frauenfußball bewegt, hat klar erkannt, dass die asiatischen Länder auf einem sehr guten Weg sind. Nicht umsonst holen diese Länder auf Juniorenebene viele Titel. Ich denke da an Nordkorea oder Japan. Und mich interessiert in meiner neuen Funktion extrem, warum das so ist. Warum hat Japan so gut ausgebildete Spielerinnen? Und zwar ständig und auch in jungen Jahren, also im U17- und U19-Bereich. Das finde ich einfach auffällig. Dann müssen die in ihrer Ausbildung etwas Besonderes machen. Das interessiert mich. Auch in Spanien tut sich einiges. Das sind Trends, die man im Blick haben muss.
Können Sie uns da Ihre ersten Erkenntnisse verraten. Was macht denn zum Beispiel Japan besonders gut?
Sie legen sehr viel Wert auf Basics und Technik. Sie sind sehr fleißig und trainieren diese Bereiche intensiv. Beispiel Schulterblick. Jede Spielerin schaut drei Mal über die Schulter, bevor sie den Ball annimmt. Damit weiß sie, was hinter ihr passiert. Das finde ich schon beeindruckend und spannend. Ich würde gerne mal nach Japan fahren, um mir anzuschauen, was genau dort gemacht wird. Gleichzeitig muss ich sagen, dass wir in Deutschland jetzt und auch in Zukunft Trendsetter sind und sein werden. Wir machen auch einen guten Job, dennoch muss man immer mit offenen Augen durch die Welt gehen und dazulernen wollen.
Dem Boom in der Entwicklung des Frauenfußballs konnte man sich in den letzten Jahren nicht entziehen. Wie reflektieren Sie jetzt darüber und wie sehen Sie die Entwicklung aktuell?
Es war eine wahnsinnige Entwicklung. Wenn ich zurückdenke an mein erstes Länderspiel im Jahr 1982… was von da bis heute passiert ist, das ist wirklich der Wahnsinn. Athletisch, taktisch, technisch und bei der Schnelligkeit hat sich alles verbessert. Das ist ungefähr zu vergleichen mit dem Männerfußball. Da hat sich auch alles entwickelt und verbessert.
Welche taktischen Fortschritte haben Sie besonders beeindruckt?
Viele Trends kommen über den Männerfußball. Wie zum Beispiel die abkippenden Sechser. Schweden hat bei den Olympischen Spielen gezeigt, dass sie tiefer stehen als sonst. Sie haben versucht, den Raum in ihrer eigenen Hälfte sehr eng zu gestalten. Das sind ja auch Trends und taktische Entwicklungen. Die Spielerinnen sind einfach besser ausgebildet. Da sind wir alle auf dem richtigen Weg.
Inwiefern sind taktische Belange und auch Spielstile vom Männerfußball übernommen worden, weil es aufgrund des vielen TV-Materials etwa die Vorbereitung von Mannschaftssitzungen einfacher macht?
Ich habe das getan. Es hat mir einfach besonders gut gefallen, wie Dortmund vor ein paar Jahren gespielt hat. Die Spielauffassung gefällt mir heute noch sehr gut. Da haben wir uns einige Sachen abgeschaut und Szenen verwendet, um das unseren Spielerinnen zu zeigen. Anschließend ging es darum, dies auf dem Platz umzusetzen.
Gab es in dieser Zeit auch fachlichen Austausch mit Bundestrainer Joachim Löw?
Ein paar Mal im Jahr auf jeden Fall. Ich habe mir einige Dinge zu Nutzen gemacht, die im Männerfußball umgesetzt wurden. Ich hatte früher schon einen guten Kontakt zu der Scouting-Abteilung und konnte mir da sämtliche Szenen zusammenschneiden lassen, die mich interessiert haben. Von daher gab es schon immer eine sehr intensive Zusammenarbeit.
Wie schätzen Sie das ein, was Joachim Löw mit der deutschen Nationalmannschaft geleistet hat, angefangen mit seiner Zeit als Co-Trainer und im Zuge der Umstrukturierungen des DFB Anfang des Jahrtausends?
Joachim Löw hat dem Männerfußball sehr gut getan. Er hat den Männerfußball in Deutschland geprägt und nach vorne gebracht. Er wurde auch schon als Welttrainer ausgezeichnet und er ist Weltmeister geworden. Ich finde, wir spielen einen sehr guten Fußball. Wir spielen nach vorne und haben auch bei der Europameisterschaft in Frankreich sehr gute Spiele absolviert. Natürlich gehört auch immer das Quäntchen Glück dazu. Also muss man im richtigen Moment die Tore erzielen.
Reden wir kurz über den Breitenfußball. Welche speziellen Bereiche brauchen Ihrer Meinung nach erhöhte Aufmerksamkeit?
Ich finde, wir können sehr zufrieden sein, wenn man auf die Zahlen schaut. Viele Mädchen und Frauen spielen Fußball. Zumindest in Deutschland ist es die Sportart Nummer eins. Wir haben Schulen und Internate, in denen Fußball angeboten wird. Da sind wir auf einem sehr guten Weg. Natürlich hilft es der Sportart, wenn man Titel holt. Man sieht das auch im Tennis: Angelique Kerber ist jetzt die Weltranglistenerste und seitdem ist Tennis als Sport für die Jugend wieder interessanter geworden. Wir müssen im Frauenfußball so weitermachen und dafür sorgen, dass sich Mädchen für den Sport interessieren. Natürlich müssen wir dann auch schauen, dass wir eine gute Spitze zusammen bekommen. Ausbildung ist das A und O.
Es gibt ja die Erkenntnis in Europa, dass man viele Mädchen für den Fußball gewinnen kann, ein Großteil davon aber im Teenager-Alter wieder aufhört. Wie sehen Sie diesen Trend?
Das ist doch ganz normal. Vielleicht ist es so, dass die Mädchen, die nicht ganz so gut sind, oder die nicht zu 100 Prozent Fußballerinnen sind, jetzt doch lieber Tennis spielen. Vielleicht, weil sie da ein bisschen besser sind. Viele entdecken sich erst im Jugendbereich. Aber für mich ist das ehrlich gesagt kein Problem. Wir können stolz darauf sein, dass wir Sportart Nummer eins sind.
Was kann Ihrer Meinung nach getan werden, um europaweit ambitionierte Trainer und Trainerinnen im Frauenfußball zu fördern?
Wir haben immer versucht, Spielerinnen dahingehend zu animieren, dass sie ihre Trainerausbildung machen. Und das ist uns auch geglückt. Wir haben viele ehemalige Nationalspielerinnen, die jetzt im Trainergeschäft arbeiten. Da steht Deutschland schon seit Jahren an der Spitze. Damit hat [Ex-Bundestrainerin] Tina Theune angefangen und ich habe das fortgesetzt. Wichtig ist, dass man Spielerinnen hat, die mit dem Herzen dabei sind. Sie müssen ihre Erfahrungen an junge Spieler weitergeben können. Wie das genau bei anderen Nationen ist, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Ich kann nur sagen, dass der Trend zur Frau geht. In Japan gibt es jetzt beispielsweise auch erstmals eine Frau an der Spitze der Nationalmannschaft.
Warum ist es Ihrer Meinung nach auch darüber hinaus wichtig, dass sich Verbände darum bemühen sollten, verdiente Spielerinnen nach ihren aktiven Karrieren weiter im Fußball zu halten?
Weil sie natürlich Vorbild für die jungen Mädchen sind und sie ihren Job in erster Linie ausführen, weil sie mit dem Herzen dabei sind. Wenn du mit dem Herzen dabei bist, kannst du auch 100-prozentige Arbeit abliefern. Wir sind damit sehr gut gefahren.
Als Serien-Europameister ist die Erwartungshaltung für Deutschland vor der Womenʼs EURO 2017 wieder enorm hoch. Wie geht man mit diesem Druck um?
Jeder erwartet, dass man den Titel holt. Aber gerade die Mannschaften, die am Ende den Titel holen, wissen nur zu genau, wie schwer das ist. Man braucht absolute Konzentration. Es ist harte Arbeit und noch dazu braucht man auch das Quäntchen Glück, um als Gewinner vom Platz zu gehen. Ich habe immer nur von Spiel zu Spiel gedacht. Deutschland hat auf jeden Fall die Qualität, aber es ist kein Selbstläufer, Titel zu gewinnen. Da muss in den entscheidenden Momenten schon einiges passieren. Man braucht ein Tor zur richtigen Zeit und wenn man taktische Umstellungen vornimmt, müssen die auch passen.
Welche Mannschaft kann bei der Frauen-EM für eine Überraschung sorgen?
Vielleicht Spanien? Die Favoriten sind die vier üblichen Mannschaften, also Norwegen, Schweden, Frankreich und Deutschland. Wobei Frankreich ja leider noch nie einen Titel gewonnen hat, obwohl sie eigentlich schon seit Jahren als Favorit gehandelt werden. Die haben wirklich total klasse Spielerinnen, die technisch versiert sind. Sie sind sehr spielintelligent, aber irgendwie hat es noch nie gereicht. Ich habe Spanien ein wenig auf dem Zettel, vielleicht auch England. Beide Mannschaften haben sich in den letzten Jahren hervorragend entwickelt.
Das Teilnehmerfeld wurde von 12 auf 16 erhöht. Welche Auswirkungen wird dies nach sich ziehen?
Ich bin auch gespannt. Der Frauenfußball ist meiner Meinung nach auf jeden Fall in der Lage, bei dieser Endrunde vier zusätzliche Mannschaften zu stellen. Einen Qualitätsverlust gibt es dadurch nicht. Ein Beispiel wäre Schottland, wo man auch eine stetige Entwicklung sieht. Ich glaube, wir haben es mit einem guten Modus zu tun. Es ist von Anfang an klar, dass die beiden erstplatzierten Teams in der Gruppe weiterkommen und der Dritte und Vierte ausscheiden. Ich weiß noch nicht, was passiert, aber ich glaube, es wird gut verlaufen.
Berti Vogts hat mal gesagt: "Die Breite an der Spitze ist dichter geworden" – inwiefern trifft das in den letzten Jahren auf den Frauenfußball zu?
Es gab da eine große Entwicklung von verschiedenen Nationen. Es gibt jetzt mehr Favoriten als noch vor zwölf Jahren. Natürlich sind das Frankreich, Schweden, Norwegen, Spanien und England und Deutschland. Es sind aber immer mehr Nationen dazugekommen, die jetzt darauf aus sind, Titel zu gewinnen.
Seit 2007 hat keine europäische Mannschaft mehr die Frauen-Weltmeisterschaft gewonnen. In den letzten zwei Endspielen war auch kein europäisches Team dabei. Ist das Ihrer Meinung nach nur Zufall, oder wurde Europa von anderen Mannschaften überholt?
Es gibt auf der ganzen Welt hervorragende Teams, die in der Lage sind, Weltmeister zu werden. Ich denke da auch an Kanada, das jetzt zweimal hintereinander die Bronzemedaille bei Olympischen Spielen geholt hat. Und auch von den USA wissen wir, dass sie sich ganz lange und intensiv zusammen vorbereiten. Und dann gibt es eben auch Japan, von denen ich ja vorhin schon geschwärmt habe. Und Brasilien. Natürlich muss sich auch Europa weiterentwickeln, um letztendlich mal wieder einen Weltmeister zu stellen. Aber das ist nicht so einfach. Ich glaube, dass jede Nation viel mehr investiert, als es noch vor ein paar Jahren der Fall war, um die Spielerinnen auf so ein Turnier vorzubereiten.
Es werden viele Top-Spielerinnen aus Brasilien, Japan und den USA verpflichtet. Inwiefern ist dies eine Herausforderung für die regionale Ausbildung und für die europäischen Vereine?
Wenn man es positiv sieht, wird das ganze Niveau nach oben gefahren. Solche Spielerinnen, die aus anderen Nationen kommen, bringen auch viel Qualität mit. Man muss schauen, dass man die jungen Spielerinnen integriert oder vielleicht ausleiht. Es ist wichtig, dass die jungen Spielerinnen ihre Spielpraxis bekommen. Und es ist wichtig, dass sie in der Zeit, in der man sich am besten entwickelt, auch die Chance dazu erhalten. Dann müssen sie eben in anderen Vereinen spielen und sich weiter durchsetzen. In den Vereinen, die Stars verpflichten, kann man als junge Spielerin aber auch sehr viel lernen. Also ist es ein für und ein wider. Letztendlich muss das dann der Verein entscheiden.
Wo sehen Sie den Frauenfußball in fünf Jahren?
Wieder ein Stück in der Entwicklung nach vorne gerutscht. Vielleicht noch schneller und noch athletischer. Ich glaube, es wird noch mehr Spielerinnen geben und die Kader werden größer werden. Auf jeden Fall geht es weiter nach vorne. Ich glaube nicht, dass der Frauenfußball schon auf dem Höhepunkt angelangt ist.
Silvia Neids Karriere-Highlights
- 4 große Titel in ihrer elfjährigen Amtszeit als deutsche Bundestrainerin
- Titelverteidigung bei ihrem WM-Debüt als Bundestrainerin 2007 in China
- 1. Olympiasieg einer deutschen Frauenfußballmannschaft 2016 in Rio
- 3x FIFA-Welttrainerin des Jahres
- 111 Länderspieleinsätze und 48-fache Torschützin im DFB-Trikot
Dieser Artikel, der überarbeitet wurde, erschien ursprünglich in UEFA Direct Nr. 165.