Die Kunst des Toreschießens und - verhinderns
Dienstag, 14 September 2021
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Im technischen Bericht zur EURO 2020 werden die
wichtigsten Trends und Entwicklungen bei einem Turnier
analysiert, das einmal mehr neue Maßstäbe setzte - angefangen bei der Anzahl der Tore.
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Bei der torreichsten EM-Endrunde der Geschichte wurde ausgerechnet ein Torwart zum besten Spieler gekürt. Dieses vermeintliche Paradoxon lässt sich dadurch erklären, dass die technischen Beobachter der UEFA sowohl beim Angriffsspiel als auch bei den Torhütern ausgezeichnete Leistungen feststellten - dies gilt insbesondere für den italienischen Schlussmann Gianluigi Donnarumma, der sich in den 51 packenden Partien von allen Akteuren am stärksten hervortat.
Die Mannschaft, die den ersten Treffer des Turniers erzielte, steuerte auch den letzten bei. Es war der passende Abschluss eines Triumphs, der sich mit dem 3:0-Auftaktsieg Italiens gegen die Türkei früh abzuzeichnen begann. Vor Turnierbeginn waren die Azzurri seit 27 Partien ungeschlagen und hatten in der EM-Qualifikation alle zehn Spiele gewonnen. Selbst Cheftrainer Roberto Mancini hätte sich wohl kaum träumen lassen, dass alles so schnell so gut zusammenpassen würde, als er die nach der verpassten Qualifikation zur WM 2018 am Boden liegende Fußballnation übernahm.
Abwehrreihen
Bei der EURO 2016 war Italien eine von nur wenigen Mannschaften mit einer Dreierabwehr gewesen - Andrea Barzagli, Leonardo Bonucci und Giorgio Chiellini bildeten das Fundament der Auswahl von Antonio Conte, die im Viertelfinale an Deutschland scheiterte. Barzagli ist seit diesem Sommer als Trainer für den Italienischen Fußballverband tätig, doch Bonucci und Chiellini bildeten auch fünf Jahre nach der Endrunde in Frankreich das Herzstück der unter Roberto Mancini auf eine Viererkette umgestellten Defensive. Mit Leonardo Spinazzola und Giovanni Di Lorenzo an der Seite des erfahrenen Juventus-Duos sorgte Mancini dafür, dass Italien wie schon 2016 einen Gegentrend setzte, agierten doch bei der EURO 2020 nicht weniger als 15 Teams zumindest phasenweise mit einer Dreier- oder Fünferabwehr.
Der wirkungsvolle Einsatz von Außenverteidigern zur Unterstützung der Offensive war eines der prägenden Merkmale des neuen Europameisters - Spinazzola wurde denn auch ins All-Star-Team berufen. Packie Bonner, der den Mann des AS Rom im Spiel gegen Österreich beobachtete, fiel auf, dass Spinazzola „stets bestrebt ist, bis zur Grundlinie durchzulaufen, und zweimal tauchte er gar im Fünfmeterraum auf. Er harmonierte außerordentlich gut mit Lorenzo Insigne, der den österreichischen Rechtsverteidiger nach innen zog und so Freiräume kreierte.“
Das Zusammenspiel mit Angreifern, nicht unbedingt immer durch Hinterlaufen, wurde als neues Merkmal im Offensivrepertoire des modernen Außenverteidigers identifiziert. „Das ist immer häufiger zu sehen“, merkte Mixu Paatelainen an. „Die Außenverteidiger ziehen gerne zur Mitte und nehmen so den gegnerischen Flügelspieler aus seiner Komfortzone. Ich sehe das als Mittel, das die Trainer einsetzen, um den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen."
Auf diese Weise erzielten die Außenverteidiger bzw. Außenläufer insgesamt 16 Tore, darunter der Führungstreffer von Luke Shaw im Endspiel, der damit die überraschende Entscheidung von Trainer Gareth Southgate, mit einer Fünferabwehr zu beginnen, rechtfertigte. Was Leonardo Spinazzola anbelangt, fügte Packie Bonner hinzu, dass Marco Verratti bei dessen Ausflügen gut gegen mögliche Gegenstöße abgesichert habe.
Diese Absicherung war Teil der Defensivtaktik und ermöglichte es den Außenverteidigern, ohne Angst vor Ballverlusten nach vorne zu gehen. „Wenn Italien in der Angriffszone den Ball verlor, stellten sie dem Gegner die Passwege nach außen zu“, hielt Jean-François Domergue fest. „Sie machten die Räume dicht mit sechs oder sieben Spielern 25 bis 40 Meter vor dem eigenen Tor, während Bonucci und Chiellini hinten absicherten, mit Jorginho davor. Die anderen waren für das Umschaltspiel zuständig und Italien verstand es sehr gut, Passwege zuzustellen, um wieder an den Ball zu kommen.“
Pressing und Gegenpressing
Italien tat dies häufig bereits in der gegnerischen Platzhälfte, und ihr hohes Pressing bzw. Gegenpressing wurde in den Notizblöcken der technischen Beobachter oft vermerkt. Esteban Cambiasso, der die Squadra Azzurra in der Gruppenphase beobachtete, gab Folgendes zu Protokoll: „Wenn ich einen Faktor nennen muss, ist es das Pressing im vorderen Drittel. Sie pressen mit vielen Spielern und zwischen dem Ballverlust und der Rückeroberung vergeht sehr wenig Zeit. Das bedeutet, dass sie dem Gegner nicht viele Chancen auf ein schnelles Umschalten lassen.“ Fünf der italienischen Balleroberungen im vorderen Drittel führten denn auch zu Toren.
Angesichts dieses hohen Pressings wurde der seit Einführung der neuen Abstoßregel 2019 beobachtete Trend des gepflegten Spielaufbaus von ganz hinten leicht gebremst; die Mannschaften ließen diesbezüglich etwas mehr Vorsicht walten. Der englische Keeper Jordan Pickford etwa spielte im Halbfinale gegen Dänemark 20 Mal und im Endspiel 26 Mal lang, was Packie Bonner zu folgender Analyse veranlasste: „Für die Außenläufer wurde es schwierig, sich ins Angriffsspiel einzubringen, wenn Kane Luftzweikämpfe verlor und sich die Bälle nicht weiter hinten holen konnte.“
Der englische Kapitän war nicht der einzige, der mit fehlendem Raum im Zentrum zu kämpfen hatte; die Beobachter befassten sich ausgiebig mit den Problemen der Teams, Abwehrreihen mit drei Innenverteidigern und einem oder zwei Abräumern davor zu durchbrechen. Dies führte wiederum zu einer Diskussion über die Rolle der Sturmspitze. „Deutschland spielte mit drei Angreifern statt mit einer Nr. 9“, sagte Steffen Freund. „Der Neuner ist nicht Geschichte - er muss einfach flexibler sein, rotieren und immer noch den richtigen Torriecher haben.“
„Robert Lewandowski Robert Lewandowski ist ein klassischer Torjäger“, fügte Dušan Fitzel hinzu. „Und Patrik Schick hat ein ausgezeichnetes Turnier gespielt. Man muss aber beachten, was im Finale geschah, als England lange Bälle zu spielen begann. Harry Kane hatte gegen die italienischen Innenverteidiger keine Chance. Sie haben den Ball jedes Mal gewonnen. Deshalb haben wir Mittelstürmer gesehen, die nach außen gingen oder sich zurückfallen ließen.“
Das erweitere Anforderungsprofil der Stürmer war auch beim 2:1-Sieg Belgiens gegen Dänemark zu beobachten. „Als Belgien in der ersten Halbzeit mit Romelu Lukaku in der Spielfeldmitte agierte, hatte ihn Simon Kjær gut unter Kontrolle. Dann hat der Trainer umgestellt, Kevin de Bruyne ins Zentrum beordert und von da an hat Lukaku Dänemark auseinandergenommen – Bingo!“, so Peter Rudbæk. Der belgische Coach Roberto Martínez hatte erkannt, dass die meisten Tore über die Seiten entstanden; in der Tat machten Flanken und nach hinten aufgelegte Bälle 35 % aller Treffer aus und waren auch für die Rekordzahl an Eigentoren verantwortlich.
Den Titel des Torschützenkönigs sicherte sich zwar Cristiano Ronaldo, doch der goldene Schuh hätte genauso gut an „Mr. Eigentor“ gehen können – elfmal trafen Spieler ins eigene Netz, zweimal mehr als in den 15 vorherigen Endrunden zusammen. Da 14 weitere Tore nach Abprallern fielen, erwiesen sich Hereingaben als besonders produktiv. „Wenn die Flanke außerhalb der Reichweite des Keepers ist, fällt in neun von zehn Fällen das Tor“, sagte der technische Beobachter Frans Hoek, seines Zeichens ein ehemaliger Torwart. „Sie sind so scharf getreten, dass sie reingehen, egal wer den Ball berührt.“
Hier waren wiederum schnelle, technisch versierte Spieler gefragt, da das Dribbling wieder in Mode kam. „Das war die EM der Dribblings“, sagte Fabio Capello. „Endlich sehen wir junge Spieler, die das 1-gegen-1 suchen, um zur Grundlinie zu gelangen und den Ball gefährlich zur Mitte zu bringen.“ Die Italiener Federico Chiesa und Lorenzo Insigne wie auch der Engländer Raheem Sterling hauchten dem in Vergessenheit geratenen Spielertyp, der die Fans begeistert und die Außenverteidiger das Fürchten lehrt, neues Leben ein.
„Wir haben großes Glück in Italien, derzeit über diese Spieler zu verfügen“, so Capello, für den Sterling der Schlüssel zum englischen Erfolg war. „Die Laufwege sind sehr wichtig, aber auch, dass sie das Risiko eines Dribblings eingehen“, fügte der ehemalige englische Nationaltrainer hinzu.
Dies waren einige der wichtigsten Erkenntnisse eines Turniers mit elf auf den ganzen Kontinent verteilten Austragungsorten, von Glasgow bis Baku und von St. Petersburg bis Sevilla. Eingehender beleuchtet werden diese Trends im technischen Bericht der UEFA EURO 2020, der im September zeitgleich mit dem dann stattfindenden UEFA-Trainerkonvent veröffentlicht wird.