Taktik-Trends: Offensive Außen und Dreierkette
Mittwoch, 7. Juli 2021
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Wir analysieren mit Fabio Capello, dem Leiter der Technischen Beobachter der UEFA, und seinen Kollegen die bisherige UEFA EURO 2020.
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"Das ist die EURO der Dribblings." Auf diesen Punkt brachte es Fabio Capello bei seiner Analyse der UEFA EURO 2020. Der Italiener setzte sich mit seinem Team der Technischen Beobachter der UEFA zusammen und bewertete das Geschehen der bisherigen K.-o.-Runden.
Mit Blick auf ein Turnier, bei dem fast ein Drittel der 135 Tore bisher aus Flanken resultierten, sagte Capello, Leiter der Beobachtergruppe, dass Außenspieler - sowohl Flügelspieler als auch Außenverteidiger - einen bemerkenswerten Eindruck hinterlassen haben.
"Für mich ist das vor allem die EURO der jungen Spieler, die im Eins gegen Eins ins Dribbling gehen", sagte Capello. "Es sind nicht nur die Rechts- und Linksverteidiger, sondern auch die Flügelspieler." Dabei nannte er konkrete Beispiele: "[Raheem] Sterling hat immer den Unterschied gemacht. In Italien haben wir derzeit das Glück, Spieler wie [Federico] Chiesa und [Leonardo] Spinazzola zu haben."
Die Bedeutung des Flügelspiels ist nur einer der Trends, die die Beobachter der UEFA ausgemacht haben. Andere sind der Einsatz von nach innen gezogenen Außenverteidigern, drei Innenverteidigern und die taktische Flexibilität der Teams während des Spiels. EURO2020.com hat bei der letzten Sitzung zugehört, um mehr zu erfahren.
Erfolgsfaktor Flügelspiel
Eine Frage war, warum 29 Prozent der Tore nach Flanken erzielt wurden. Die UEFA-Beobachter waren der Ansicht, dass die Mannschaften den Weg zum Tor über die Flügel suchen, weil die Gegner in "engen, kompakten" Formationen verteidigten. Da die meisten Mannschaften mit drei Innenverteidigern und defensiven Mittelfeldspielern spielen, die sich in der Nähe der Innenverteidiger aufhalten, und damit das Zentrum zustellen, muss das angreifende Team den Raum breiter machen.
Wie Capello andeutete, wird diese Breite sowohl von Flügelstürmern als auch von Außenverteidigern kreiert. Ginés Meléndez wies auf die Tatsache hin, dass alle vier Halbfinalisten mit drei Stürmern spielen: im 4-3-3 wie bei Spanien und Italien, im 3-4-3 bei Dänemark und im 4-2-3-1 bei England, das auch in ein 4-3-3 wechselt. "Mannschaften, die mit drei Stürmern spielen, schlagen mehr Flanken und daraus resultieren mehr Tore", sagte er.
Fabio Capello lobt Pedri
"Ich habe noch nie so einen jungen Spieler gesehen, der eine so stake Persönlichkeit hat und so furchtlos agiert. Er ist fantastisch. Ich habe Messi gesehen, als er 17 war, und dachte: 'Dieser Spieler wird einmal ein Genie werden.' Als Mittelfeldspieler unterscheidet sich Pedri für mich schon jetzt von allen anderen Spielern."
Als logische Konsequenz der steigenden Anzahl von Toren nach Flanken waren 20 Prozent aller bisher erzielten Tore Kopfbälle. "Das macht einen großen Teil des Fußball aus. Ich sehe gerne Flanken und Tore", sagte David Moyes. Er verwies auf die Rolle der nach innen gezogenen Flügelspieler und Außenverteidiger. Diese ziehen nach innen und versorgen die Spieler im Sturmzentrum mit Flanken. Als Beispiele nannte er Jan Bořil (Tschechische Republik), Joakim Mæhle (Dänemark), Kieran Trippier (England), Spinazzola (Italien) und Tomáš Hubočan (Slowakei). All diese Spieler agierten in einem oder mehreren Spielen als Außenverteidiger oder Flügelspieler, die nach innen einrückten.
Ein weiteres Beispiel, das Mixu Paatelainen anführte, war der belgische Außenverteidiger Leandro Trossard. Der rückte nach innen, während Stürmer Jérémy Doku auf die rechte Seite auswich. Paatelainen erklärte: "Der Außenverteidiger geht wohl deshalb nach innen, um den gegnerischen Flügelspieler aus dessen Komfortzone zu holen. Und wie wir wissen, sind Flügelspieler nicht immer die besten Verteidiger."
Dreierketten und Flexibilität
In der Gruppenphase gab es 13 Mannschaften, die mit einer Dreierkette spielten. Diese Zahl stieg in der K.-o.-Phase noch an, weil sowohl Frankreich als auch England ihre Achtelfinalspiele mit drei Innenverteidigern begannen. Im Falle Frankreichs war dieses System eine Reaktion auf die Verletzungen der beiden Linksverteidiger. Doch Trainer Didier Deschamps stellte bei der Niederlage gegen die Schweiz während des Spiels wieder auf eine Viererkette um.
Die Viererkette ist normalerweise ein Markenzeichen der Franzosen. Jean-François Domergue hob denn auch den Raum zwischen den drei Innenverteidigern hervor, als die Franzosen noch mit einer Dreierkette agierten, und wie die Schweiz in der Lage war, "Dreiecke" um den rechten Innenverteidiger Raphaël Varane aufzubauen. Corinne Diacre fügte hinzu, dass die beiden defensiven Mittelfeldspieler, Paul Pogba und N'Golo Kanté, zu viel "Raum zwischen sich zuließen und die Schweiz auch hinter die Linien kam".
Capello von der Schweiz überrascht
"Die Schweiz hat mich mit ihrem Stil überrascht. Sie haben gut verteidigt, und wenn sie den Ball hatten, haben sie sehr selbstbewusst nach vorn gespielt. Daran sieht man die Handschrift eines Trainers. [Vladimir Petković] hat in jedem Moment Ruhe ausgestrahlt. Er hatte immer gute Ideen. Das ist Führungsqualität."
Den UEFA-Beobachtern zufolge hatte England mehr Erfolg mit seinem 3-4-3 gegen Deutschland. "England hat hoch verteidigt und gut gepresst", sagte Aitor Karanka und fügte hinzu, dass es am eingewechselten Jack Grealish lag, dass England die Oberhand gewann, weil sich zuvor die Außenverteidiger beider Teams neutralisiert hatten. "Er kam rein ins Spiel und hinterließ Fragezeichen bei den Außenverteidigern und Innenverteidigern", erklärte Karanka, womit Luke Shaw mehr Platz bekam.
Laut Moyes ist es schwierig für den Gegner, von hinten aufzubauen, wenn ein Team mit drei Angreifern ins Pressing geht, und Capello, einst selbst England-Trainer, lobt die Pressing-Strategie des Teams von Gareth Southgate. "Southgate hat mich mit dem Stil überrascht, wie sie jetzt verteidigen", sagte er und erklärte, dass zuvor "der Stil war, dass die Viererkette die Leute, die den Ball bekommen haben, nicht unter Druck gesetzt, sondern sich vor das eigene Tor zurückgezogen hat, um die Linie zu verteidigen. Jetzt pressen sie sofort, und es ist [für den Gegner] wirklich schwierig, zum Torhüter durchzukommen."
Bezüglich Declan Rice führte Capello an: "Er ist ein wirklich sehr wichtiger Spieler. Es ist am schwierigsten, gegen Rice und Phillips zu spielen, weil sie sehr viel rennen. Wenn du den Ball hast, ist es gut, und die Balance von England hängt von diesen zwei Spielern ab." Hinsichtlich des englischen Halbfinals gegen Dänemark sagte Capello: "Ich will das junge englische Team in Wembley unter Druck erleben, die Reaktion des Teams."
Die UEFA-Beobachter hoben schließlich auch die Fähigkeit der Teams hervor, ihre Herangehensweise während der Spiele zu ändern. Belgien machte dies beispielsweise im Achtelfinale gegen Portugal, als sie, nachdem sie im ersten Durchgang den Ballbesitz dominiert hatten, nach der Verletzung von Kevin De Bruyne im zweiten Durchgang auf Konter setzten und auf lange Pässe auf Romelu Lukaku.
Dänemark wiederum lieferte im Spiel gegen Wales im Achtelfinale ein beeindruckendes Beispiel seiner Wandlungsfähigkeit, als Andreas Christensen nach den ersten 20 Minuten aus der Dreierkette nach vorne rückte und als defensiver Mittelfeldspieler agierte, womit sich die Formation von 3-4-2-1 zu 4-3-3 änderte. Trainer Kasper Hjulmand nahm später eine weitere Änderung vor und beendete das Spiel bei klarer Führung in einem 3-5-2.