Steffen Freund: "Deutschland ist mein Geheimfavorit"
Mittwoch, 9. Juni 2021
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In seiner ersten Kolumne zur UEFA EURO 2020 schreibt Steffen Freund über die Chancen von Deutschland und erhöhte Nervosität am ersten Spieltag.
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Vielleicht werden einige darüber schmunzeln, aber wenn ich an Geheimfavoriten für die EURO denke, fällt mir am ehesten Deutschland ein.
Manch einer meint vielleicht, sie wären Mitfavorit. Aber wenn man auf die Weltrangliste schaut, sowie das ganze Auf und Ab wie etwa die Niederlage gegen Nordmazedonien... Die Stimmung ist nicht ungefährlich bei Deutschland. Das kann man negativ sehen, oder auch positiv. Die Mannschaft hat eben nicht ganz so viel Druck.
Besonders beeindruckt mich Joshua Kimmich. Er ist eigentlich schon ein absoluter Weltklasse-Spieler, hat aber auch das Potenzial, unter die besten drei Spieler zu kommen. Er bietet das komplette Paket an. Obwohl er jede Partie spielt, sieht man bei ihm weder Müdigkeit noch irgendwelche Stressfaktoren. Wie kein anderer kann er Chip-Bälle hinter die Kette spielen. Dazu kommen seine defensiven Qualitäten, seine Einstellung und sein Ehrgeiz.
Bei den Favoriten für die EURO sehe ich folgende Reihenfolge: Frankreich, England, Belgien, Italien, Spanien, Portugal. Frankreich ist für mich der absolute Topfavorit, weil sie den mit Abstand besten Kader haben. Die individuelle Klasse ist entscheidend. Für jeden Top-Stürmer haben sie noch einen Ersatz, das ist unglaublich. Jeder Spieler ist ersetzbar, das ist ein ganz wichtiger Fakt nach so einer langen Saison. Diese Mannschaft ist so gut, dass sie auch ihren besten Spieler Kylian Mbappé verschmerzen könnte.
Mbappé wird für Frankreich die meisten Treffer erzielen, aber mein Torschützenkönig-Tipp ist Harry Kane. Er braucht so gut wie keine Chance, um ein Tor zu machen. Das hat er sich in seinen jungen Jahren ganz hart erarbeitet. Wenn er in eine Abschlussposition kommt, bekommst du es als Abwehrspieler nur sehr schwer hin, ein Tor zu verhindern. Ich traue es übrigens auch England zu, dass sie sehr weit kommen.
Zurück zu Deutschland: Das Spiel gegen Frankreich ist gleich der Maßstab und deshalb auch die Partie, auf die ich mich am meisten freue. Können wir mit den Franzosen mithalten oder sie vielleicht sogar überraschen? Wenn wir einen Punkt holen, oder sogar gewinnen, kann das ganz schnell zum Positiven kippen. Aber es kann auch passieren, dass du gegen diese Mannschaft eine Klatsche bekommst. Dieses Spiel wird ein Knaller.
Beim Auftakt eines großen Turniers erlebt man als Spieler eine Aufregung und Anspannung, die man mit keinem Spiel in der Bundesliga oder der UEFA Champions League vergleichen kann. Das ist so, weil du dein Land vertrittst und alle Fans in deinem Land auf dich schauen. Du bist stolz, für dein Land zu spielen, und möchtest es allen 80 Millionen Menschen zuhause Recht machen. Am Spieltag spürt man das extrem, auch während dem Rest des Turniers.
Meine schönste Erinnerung an die EURO als Spieler ist das Halbfinale 1996 gegen England vor 80.000 Zuschauern im Wembley. Ich kann jedem empfehlen, sich das nochmals anzuschauen. Spätestens nach 15 Minuten hat man eine Gänsehaut. Die Stimmung war unglaublich bewegend, weil die Menschen dort das Spiel unheimlich zelebriert haben. Wenn 80.000 Menschen anfangen zu singen und bis zum Schluss nicht aufhören - das kannst du gar nicht greifen.
Der Spielverlauf war hoch emotional und spannend, aber trotz der englischen Niederlage wurden wir respektvoll verabschiedet. Ich werde das nie vergessen. Gleichzeitig war es auch eine extrem negative Erfahrung, weil ich mir in der letzten Minute das Kreuzband gerissen habe. Ich war dann sehr emotional und wollte eigentlich gleich abreisen. Es hat mich total schockiert, dass ich das Finale nicht spielen konnte.
Bezüglich der Stadion-Atmosphäre von dieser EURO bin ich sehr glücklich, dass es in die richtige Richtung geht. Zuschauer bei den Spielen sind enorm wichtig für den Sport. Die Schönheit des Fußballs ist nur mit den Fans da. Es müssen Emotionen hochkommen und eine Symbiose entstehen. Das ist das Salz in der Suppe. Die Suppe schmeckt nicht, wenn keine Zuschauer da sind.