Casillas über den spanischen Aufschwung
Freitag, 1. Februar 2013
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Spaniens Kapitän Iker Casillas erklärt, warum der Welt- und Europameister so stark ist - dazu spricht er über das Elfmeterschießen, das alles verändert hat.
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Die Legende geht, dass eine leichten Herzens abgeschlossene Wette zwischen Iker Casillas, Pepe Reina und Andrés Palop um ein paar Bier und Tapas einer der größten Faktoren beim Gewinn der UEFA EURO 2008 war.
Fußballer können auch in den besten Zeiten wider alle Vernunft von Aberglaube getragen werden. Luis Aragonés, ein Mann, der für sein Misstrauen gegenüber der Farbe gelb bekannt ist, ging sogar so weit zu behaupten, dass die Trikots seines spanischen Teams im Spiel der letzten Vier gegen Russland etwas anderes als "senffarben" waren. Dennoch zweifelten viele daran, dass er mit seinen Einsätzen soweit kommen würde, als es im Viertelfinale mit Italien am 22. Juni in Wien zum Elfmeterschießen kam.
Warum? Weil es die Roja in 88 langen Jahren seit 1920 nicht geschafft hatten, in einem Turnierspiel Italien zu schlagen. Schlimmer noch: Das Datum des 22. Juni stand für Spaniens Ausscheiden aus drei vorangehenden Turnieren, und zwar alle infolge eines Elfmeterschießens - gegen Belgien bei der FIFA-Weltmeisterschaft 1986, gegen England in der Europameisterschaft 1996 und gegen Südkorea bei der Weltmeisterschaft 2002. Also mehr als genug, um jemandem Komplexe zu bereiten. Doch nicht so bei Casillas.
Einige Wochen vor dem Turnier in Österreich und der Schweiz waren er, Reina und Palop fortwährend die letzten, die Spaniens Trainingsstätten in Las Rozas verließen. Die drei Torhüter beendeten das Training mit einem Elfmeter-Wettbewerb unter sich. Hierbei musste der Verlierer den anderen beiden ein paar Cañas (kleine Biere) und Tapas ausgeben.
Diese zusätzlichen Übungseinheiten haben offensichtlich so viel Gutes bei Casillas bewirkt, dass er in seinem Zustand aus Erschöpfung und Adrenalinschub, der nach der Nachspielzeit bei einem großen Turnier einsetzt, die Hilfe von Spaniens Torwarttrainer vor dem Elfmeterschießen mit Italien ablehnte. José Manuel Ochotorena hatte einen ganzen Ordner voller Informationen über Italiens Torschützen, die er unbedingt mit dem spanischen Kapitän teilen wollte. Aber dieser wollte gar nichts davon wissen. Casillas fühlte sich wachsam, selbstsicher und in absoluter Topform.
Zum Kuckuck mit dem Aberglaube. Und die Tatsache, dass Spanien seit der UEFA-Europameisterschaft fast ein Vierteljahrhundert zuvor kein Halbfinale eines entscheidenden Turniers mehr erreicht hatte? Ebenso ein unbedeutendes Detail für den Mann, der sich anschickt aufs Tor zuzustürmen. Die folgenden Geschehnisse machten Geschichte: Gehaltene Schüsse auf beiden Seiten verwehrten Antonio Di Natale und Daniele De Rossi den entscheidenden Treffer, so dass Cesc Fàbregas das Siegestor machen und das Treffen mit Russland einleitete konnte, bevor der erstklassige Sieg gegen Deutschland errungen wurde. Aber in diesen Moment hielt die zuschauende Welt den Atem an, während das Stadion vor Anspannung und Lärm vibrierte.
Es überrascht kaum, dass dieses Elfmeterschießen als Wendepunkt in der Fußballgeschichte seines Landes immer noch magische Erinnerungen bei Casillas hervorruft. "In diesem Moment kamen alle Faktoren zusammen, die schon mehrmals und immer an der gleichen Stelle zu unserem Ausscheiden geführt hatten", sagt der unerschütterliche Torwart von Real Madrid. "Ich kann mich noch an jedes kleine Detail erinnern: Italien war der Gegner, das Spiel ging unentschieden aus. Und die Tatsache, dass es an einem 22. Juni erneut zu einem Elfmeterschießen kam."
Vor allem ist Casillas ein Teamspieler. In Bezug auf seine Arbeit setzt er sich selbst höchst anspruchsvolle Standards und trainiert mit einer solchen Intensität, dass es manchmal scheint, als sei er ganz in seine eigene persönliche Suche nach Perfektion vertieft. Das ist jedoch nicht falsch zu verstehen. Wenn es darauf ankommt zu führen, dann ist er der Spieler, der das Team eint, der nach Konsens sucht und der bestrebt ist, das Maximum zu erreichen, wenn 23 Topathleten und ihr Trainingspersonal alle leidenschaftlich dasselbe Ziel verfolgen.
"Unser Trainingslager in Neustift ist ein Ort der Freude und der besonderen Momente gewesen", erinnert er sich. "Es herrschte dort dieses Gefühl, dass wir uns in einer fantastischen Phase befanden. Wir alle brachten Topleistung zusammen und die Mannschaft war wirklich zufrieden mit unserem Trainer. Ich denke, der große Erfolg ist auf Luis Aragonés selbst zurückzuführen. Einen Monat vor dem Finale hatte der Trainer bereits alles durchdacht – wie das Team zu managen sei und was genau er von diesem Turnier erwarten würde." Und nach dem Tor von Fernando Torres im Finale gegen Deutschland wurde der Wunsch des alten Mannes erfüllt.
Als die Feiern bereits im vollen Gange waren, hob Casillas den Pokal empor und eine Menge Geister früherer Misserfolge schwirrten in seinem Kopf herum. "Dies war ein historischer Moment für den spanischen Fußball, aber es brachte nach einer Vielzahl von Enttäuschungen, Ungerechtigkeiten und traurigen Momenten - sowohl für die Spieler als auch für die Fans - auch große persönliche Freude. In diesem Moment waren meine Gedanken bei meinen früheren Mannschaftskollegen, die für ihre Fans einen Titel holen wollten, was ihnen aber nie vergönnt war."
Natürlich fügte Spanien seinem europäischen Titel dann unter der Führung von Vicente Del Bosque noch den WM-Titel 2010 sowie die UEFA EURO 2012 hinzu. Eine Stunde nach dem Abpfiff des Finals in Soccer City sprach ich mit Casillas und bat ihn, über die Jahre, die zu dieser fantastischen Leistung geführt hatten, Resümee zu ziehen. Er wies sofort auf die UEFA- Europameisterschaft 2008 und die Perioden davor hin, die er als revolutionär für den spanischen Fußball bezeichnete.