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"Das einzige Ding, wofür wir in der Früh aufstehen"

Thomas Müller erinnert sich im Interview mit UEFA.com an die Stimmung vor dem Finale 2013 und die "große Anspannung" im Duell gegen den BVB.

Endlich am Ziel: Thomas Müller gewinnt im dritten Anlauf das Finale der Königsklasse
Endlich am Ziel: Thomas Müller gewinnt im dritten Anlauf das Finale der Königsklasse AFP via Getty Images

Wir schreiben den 01.05.2013. Der FC Bayern hat gerade mit 3:0 im Camp Nou triumphiert und darf sich die obligatorischen T-Shirts zum Finaleinzug überstreifen. Nach dem zweiten Einzug in das Endspiel der UEFA Champions League hintereinander schnappt sich Thomas Müller das Megafon und heizt dem mitgereisten Anhang ein.

Noch ahnt er nicht, dass ein Teil der Euphorie bald von Anspannung verdrängt werden wird. Schon seit dem Vorabend steht fest, dass im Finale von Wembley ausgerechnet Borussia Dortmund wartet. Es ist der Gegner, der dem Rekordmeister schon maximale Bauchschmerzen bereitet hat.

Das Wembley-Stadion Minuten vor dem Anpfiff
Das Wembley-Stadion Minuten vor dem AnpfiffGetty Images

Thomas Müller erinnert sich: "Die Stimmung war schon angespannt. Wir waren in der favorisierten Rolle, aber wir waren auch extrem unter Druck. Die Pokalniederlage 2012 war ein Gewicht im Schuh. Du denkst dir: 'Wenn man jetzt auch noch in Wembley gegen den direkten Konkurrenten aus Deutschland verliert…'

Deutschland ist nach London gefahren, um dort auszutragen, wer sich die Krone aufsetzt. Eine Niederlage wäre jetzt nicht so, als wenn man gegen Barcelona verlieren würde. Da hätte man halt gegen die Zauberer aus Spanien verloren. Aber es ging gegen Dortmund und so war die Situation schon angespannt." 

Die hohe Anspannung ist nachvollziehbar. Wichtige Endspiele - gegen Inter (2010) und Chelsea (2012) in der UEFA Champions League sowie 2012 im DFB-Pokal gegen Borussia Dortmund - hatte man zuletzt in den Sand gesetzt.

Bayerns Startelf gegen Dortmund
Bayerns Startelf gegen DortmundPopperfoto via Getty Images

Deutsche Leistungsträger der Mannschaft sollten sich erst ein Jahr darauf die WM-Krone aufsetzen und fortan einen Nimbus der Unantastbarkeit mit sich herumtragen. Auch die Phase der großen Dominanz unter Pep Guardiola, der vielleicht wichtigste Baustein auf dem Weg zum heutigen Status der unangefochtenen Nummer eins in Deutschland, bricht erst ein paar Monate später an.

Es ist also keine überaus erfolgsverwöhnte oder mit Selbstvertrauen strotzende Mannschaft, die sich auf die Reise nach London macht. Auf dem Papier steht der FC Bayern im Mai 2013 kurz vor dem Triple und dennoch - oder gerade deshalb - hat man extrem viel zu verlieren.

Müller: "Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm, zwei hochdekorierte Spieler, haben immer mal wieder von der Presse Druck bekommen, weil sie nicht so erfolgreich gewesen wären. Damals war das noch die Diskussion. Also war es noch wichtiger, als ein Champions-League-Finale von sich aus sein sollte. Das haben wir auch gespürt."

Aber ich bin nicht mit einem schlechten Gefühl nach London gefahren. Ich bin immer positiv eingestellt. Ich sage immer: 'Wir gewinnen das Ding.' Ich habe noch nie gesagt: "Heute wird es eng. Wir müssen schauen, dass wir ein Unentschieden holen.'"

Thomas Müller im Zweikampf mit Mats Hummels
Thomas Müller im Zweikampf mit Mats HummelsGetty Images

Trotz des immensen Drucks überwiegen die negativen Gedanken nicht. Die Sehnsucht nach dem Henkelpott hat ein Niveau erreicht, dem der BVB von Natur aus nicht Paroli bieten kann.

Die Münchner nutzen das "Finale dahoam", um eine der größten Enttäuschungen der Vereinsgeschichte in pure Motivation umzuwandeln. Ihr erfahrener Trainer weiß genau, wie er diese richtig kanalisiert.

Müller: "Jupp Heynckes hat die ganze Saison klar die Richtung vorgegeben. Er hat immer wieder Sätze gesagt wie: 'Dieses Jahr geht alles nur über uns', oder: 'Das ist unser einziges Ding, wofür wir in der Früh aufstehen.'

Als Trainer versuchst du auch, Psychologe zu sein. Du bist Motivator, du nimmst sie in den Arm, schreist sie an, peitscht sie an. Diese Dinge, die uns 2012 genommen wurden, die wir uns selbst nicht ermöglichen konnten, die wollten wir uns jetzt unbedingt holen. Erfolg, Titel, Wertschätzung. Darauf war das ganze Jahr getrimmt."

Nur interessiert das den BVB beim Anpfiff in Wembley wenig bis gar nicht. Die Dortmunder zeigen den Roten schnell und deutlich, dass sie nicht gekommen sind, um bei dem letzten Aufarbeitungsakt vom "Finale dahoam" brav Spalier zu stehen. Nach Siegen gegen Hochkaräter wie Arsenal, Juventus und Barcelona ist der letzte Schritt gleichzeitig der schwierigste.

Die Mannschaft von Jürgen Klopp, die eine ebenso denkwürdige K.-o.-Runde hingelegt hat, versprüht auf fast allen Positionen mehr Energie. Mit einem hohen Laufpensum und gut getimter Aggressivität stört der BVB die Bayern so sehr, dass man das sonst so zielstrebige Aufbauspiel der Münchner nicht wiedererkennt.

Der damalige Dortmunder Robert Lewandowski vergibt eine der guten BVB-Möglichkeiten in der ersten Halbzeit
Der damalige Dortmunder Robert Lewandowski vergibt eine der guten BVB-Möglichkeiten in der ersten HalbzeitAFP via Getty Images

Müller: "Die ersten 15 Minuten haben wir in unseren Aktionen den Sicherheitsgedanken und diesen Druck gespürt. Wir haben nicht frei nach vorne gespielt. Wir waren sehr vorsichtig. Wir haben lieber mal einen Ball ins Aus gespielt, anstatt uns herauszukombinieren. Man hat gemerkt, wie angespannt wir waren."

Ab Mitte der ersten Halbzeit verschafft sich der FC Bayern etwas mehr Luft und nähert sich dem Tor an. Arjen Robben vergibt freistehend vor Roman Weidenfeller eine Riesenchance und zieht in einem spektakulären "Privatduell" dieser Jahre zum wiederholten Male den Kürzeren gegen den BVB-Keeper.

Nach der Pause setzt sich die leichte Überlegenheit fort. Mario Mandžukić bringt den FCB in Führung und Dortmund scheint zunächst nicht in der Lage, eine passende Antwort zu finden.

Müller: "Wir haben den Ausgleich in einer Phase gekriegt, als wir gedacht haben: 'Hier brennt nichts mehr an.' Nach dem 1:1 waren die Karten neu gemischt. Im Nachhinein wissen wir: Wir haben dem Ganzen Stand gehalten. Und deswegen sind wir jetzt Gladiatoren, die gefeiert werden. Aber im Sport kann es immer auch anders ausgehen."

Etwa, wenn Franck Ribéry in der 89. Minute einen langen Ball von Jérôme Boateng nicht irgendwie in die Laufbahn von Robben schaufelt. Oder wenn der Niederländer nicht den unkonventionellen Abschluss gegen seinen "Angstgegner" Weidenfeller wählt…

Der Arjen hat's gemacht
Der Arjen hat's gemachtAFP via Getty Images

Das Schicksal meint es dieses Mal gut mit dem FC Bayern. Als Schiedsrichter Nicola Rizzoli wenig später abpfeift, ist es auf der BVB-Seite des Stadions mucksmäuschen still. 130 Meter weiter westlich in der Bayern-Kurve dagegen explosionsartiger Jubel. Und ziemlich genau in der Mitte ein Thomas Müller, der sich endlich der Schwerkraft hingeben kann.

Müller: "Nach dem Abpfiff musste ich mich erst einmal hinlegen. Maschine kaputt. Ich war nach dem Spiel ziemlich ausgelaugt. Ich hatte die Tage zuvor keinen guten Magen. Weiß der Kuckuck warum. Dieser ganze Druck ist abgefallen. Es war hochemotional und ein bisschen wie im Trance. Man hat versucht, durch die ganzen Ehrungen durchzukommen. Es war eher ein erlösendes Gefühl anstatt eine Explosion, wie es wahrscheinlich ein Fan erlebt."

Schlusspfiff in Wembley
Schlusspfiff in WembleyPopperfoto via Getty Images

Bayern-Kapitän Philipp Lahm gibt später zu, dass die Erleichterung über ein nicht erneut verlorenes Endspiel die Freude über den Gewinn der Königsklasse fast übertrifft. Und auch bei Müller hat man auf der Ehrenrunde das Gefühl, dass er vor einer großen Party erst einmal noch jede Menge sacken lassen muss.

Im Laufe des weiteren Abends, die Müller stilecht in Lederhose verbringt, wird sich dies noch ändern. Sämtliche Anspannung hat er in Wembley liegen gelassen, geblieben ist nur das Gefühl des Triumphs.

Highlights: Bayerns Wembley-Triumph 2013